Bundesverfassungsgericht Beschluss04.08.2025
Inhaftierung von abzuschiebenden Ausländern erfordert eine vorherige richterliche AnordnungErfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Festnahmen vor der Anordnung von Abschiebungshaft
Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mehreren Verfassungsbeschwerden stattgegeben. Die Beschwerdeführerinnen und der Beschwerdeführer sollten abgeschoben werden. Sie wurden zu diesem Zweck jeweils festgenommen, bevor eine richterliche Haftanordnung vorlag. Ihre fachgerichtlichen Rechtsbehelfe blieben erfolglos. Hiergegen wenden sich die Beschwerdeführerinnen und der Beschwerdeführer mit ihren Verfassungsbeschwerden.
Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zur Entscheidung angenommen wurden – begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinnen und den Beschwerdeführer insbesondere in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG.
Sachverhalt
I. Ab dem 13. August 2020 begann die Ausländerbehörde mit der Planung der Abschiebung der slowakischen Beschwerdeführerin im Verfahren 2 BvR 329/22 (Verfahren I) und vereinbarte unter anderem mit dem Haftrichter am Amtsgericht anlässlich der „Abschiebehaft für Frau X“ einen Termin für den 25. August 2020. Unter dem 19. August 2020, Zugang beim Amtsgericht am 20. August 2020, beantragte die Ausländerbehörde bei dem Amtsgericht die Anordnung von Abschiebungshaft gegen die Beschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerin wurde zu unbekannter Uhrzeit am 25. August 2020 festgenommen und dem Haftrichter am Amtsgericht vorgeführt. Das Amtsgericht ordnete gegen die Beschwerdeführerin Haft zur Sicherung der Abschiebung an. Die Beschwerdeführerin wurde in die Haftanstalt verbracht und am 3. September 2020 in die Slowakei abgeschoben.
Der Antrag der Beschwerdeführerin festzustellen, dass die Ingewahrsamnahme am 25. August 2020 bis zum Erlass des die Haft anordnenden Beschlusses des Amtsgerichts vom selben Tage rechtswidrig gewesen sei, blieb vor dem Amts- und dem Landgericht erfolglos.
II. Der eritreische Beschwerdeführer im Verfahren 2 BvR 330/22 (Verfahren II) stellte in Deutschland einen Asylantrag, für dessen Bearbeitung nach der Dublin-II-Verordnung Italien zuständig war. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ordnete daher die Abschiebung dorthin an. Nach fünf gescheiterten Überstellungsversuchen wurde der Beschwerdeführer am Morgen des 5. April 2019, einem Freitag, in Gewahrsam genommen. Ein Abschiebungsversuch am selben Tag scheiterte am Widerstand des Beschwerdeführers. Noch am 5. April 2019 ordnete das Regierungspräsidium gegen den Beschwerdeführer die vorläufige Ingewahrsamnahme an. Nach Rücksprache mit dem Amtsgericht werde der Beschwerdeführer dem Haftrichter am 6. April 2019, einem Samstag, vorgeführt. Auf einen Haftantrag des Regierungspräsidiums hin ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. April 2019 die Haft zur Sicherung der Abschiebung gem. § 62 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in der Fassung vom 20. Juli 2017 (im Folgenden: a.F.) an.
Der Antrag des Beschwerdeführers festzustellen, dass seine Ingewahrsamnahme am 5. April 2019 ab 15 Uhr bis zum Erlass des Haft anordnenden Beschlusses des Amtsgerichts vom 6. April 2019 rechtswidrig war und ihn in seinen Rechten verletzte, blieb vor dem Amts- und Landgericht erfolglos. Die Gerichte hielten die behördliche Ingewahrsamnahme auf Grundlage von § 62 Abs. 5 AufenthG für rechtmäßig. Auch sei unverzüglich eine richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung eingeholt worden. Am Amtsgericht habe am 5. April 2019, einem Freitag, die Antragstellung nur innerhalb der Geschäftszeit, also bis 15 Uhr, erfolgen können.
III. Die Beschwerdeführerin im Verfahren 2 BvR 1191/22 (Verfahren III) ist ebenfalls eine eritreische Staatsangehörige, deren Asylantrag wegen der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens abgelehnt wurde. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ordnete ihre Abschiebung dorthin an.
Nachdem zwei Versuche, die Beschwerdeführerin nach Italien zu überstellen, bereits gescheitert waren, fasste die Ausländerbehörde für einen weiteren Versuch den 29. November 2017 ins Auge. Mit einem vom 24. November datierenden und am 27. November 2017 beim Amtsgericht eingegangenen Schreiben beantragte die Ausländerbehörde, gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG a.F. „Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Abschiebung“ anzuordnen.
Am 28. November 2017 wurde die Beschwerdeführerin gegen 14.30 Uhr festgenommen und zum Amtsgericht verbracht, wo sie gegen 14.45 Uhr eintraf und vom Haftrichter angehört wurde. Mit um 15.45 Uhr an die Geschäftsstelle übergebenem Beschluss ordnete das Amtsgericht gegen die Beschwerdeführerin Ausreisegewahrsam an. Am 29. November 2017 wurde die Beschwerdeführerin nach Italien überstellt.
Die Beschwerdeführerin beantragte festzustellen, dass ihre Ingewahrsamnahme am 28. November 2017 bis zum Erlass des Haftbeschlusses durch das Amtsgericht rechtswidrig gewesen sei. Es habe sich um eine geplante Festnahme ohne vorherige gerichtliche Entscheidung gehandelt. Der Antrag blieb vor dem Amts- und Landgericht erfolglos, weil die Vorführung eine bloße Freiheitsbeschränkung, keine -entziehung dargestellt habe.
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Wesentliche Erwägungen der Kammer
Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zur Entscheidung angenommen wurden – begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinnen und den Beschwerdeführer insbesondere in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 GG.
I. Die angegriffenen Entscheidungen haben den Beschwerdeführer im Verfahren II und die Beschwerdeführerin im Verfahren III in ihrem durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Recht verletzt, da es für die Festnahme an der vorausgesetzten Ermächtigungsgrundlage in Gestalt eines förmlichen Gesetzes fehlte.
1. Im Verfahren II stellen zunächst die Vorschriften der Aufnahmerichtlinie in Verbindung mit der Rückführungsrichtlinie, auf die sich das Regierungspräsidium in seiner „Anordnung der vorläufigen Gewahrsamnahme“ stützte, keine taugliche Rechtsgrundlage für eine Freiheitsbeschränkung dar. Zwar können Regelungen in EU-Richtlinien in bestimmten Fällen – wenn Mitgliedstaaten die entsprechende Regelung nicht fristgerecht umgesetzt haben und soweit die fragliche Vorschrift inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt ist – unmittelbare Wirkung im Verhältnis zwischen Staat und Einzelnem entfalten. Allerdings vermag die unmittelbare Anwendung von Regelungen aus einer EU-Richtlinie nur Rechte des Einzelnen zu begründen. Der Mitgliedstaat, der die unzureichende oder verspätete Umsetzung verantworten muss, ist wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben daran gehindert, auf Grundlage einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinien-Vorschrift gegen den Einzelnen vorzugehen.
2. Im Verfahren III stellten sich die Festnahme der Beschwerdeführerin und ihre Verbringung ans Amtsgericht nicht als „Vorführung“ und damit Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung einer der Beschwerdeführerin obliegenden Pflicht, vor dem Haftrichter zu erscheinen, dar. Dies scheidet bereits deswegen aus, weil die Beschwerdeführerin im Vorfeld nicht zu einem Anhörungstermin geladen und mithin nicht verpflichtet worden war, vor dem Amtsgericht zu erscheinen. Aus denselben Gründen geht auch die Einschätzung des Amtsgerichts fehl, bei der Verbringung der Beschwerdeführerin an das Amtsgericht habe es sich um die „zwangsweise Durchsetzung der Mitwirkungspflicht“ der Beschwerdeführerin aus dem AufenthG gehandelt. Denn auch hier war eine Verpflichtung zum Erscheinen vor dem Amtsgericht der Beschwerdeführerin im Vorfeld nicht auferlegt worden.
3. Auch stellte die Vorschrift des § 62 Abs. 5 AufenthG a.F., die die Behörden zur vorläufigen Ingewahrsamnahme von ausreisepflichtigen Ausländern zur Vorbereitung der Sicherungshaft ermächtigt hat, keine taugliche Rechtsgrundlage für die Festnahme der Beschwerdeführerin und des Beschwerdeführers in den Verfahren II und III dar.
Denn diese Regelung ermöglichte eine vorläufige Ingewahrsamnahme lediglich zum Zwecke der Vorbereitung der Haft zur Sicherung der Abschiebung im Sinne des § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. Demgegenüber waren die Voraussetzungen für die Überstellungshaft in Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung zum Zeitpunkt der jeweiligen Festnahme abschließend in Normen geregelt, welche durch § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. aber gerade nicht in Bezug genommen wurden. Vor dem Hintergrund dieser gesetzgeberischen Entscheidung war für die gegenständlichen Festnahmen ein Rückgriff auf § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. ausgeschlossen.
II. Die Festnahme der Beschwerdeführerinnen in den Verfahren I und III ohne vorherige und die Festnahme des Beschwerdeführers im Verfahren II ohne unverzüglich nachgeholte richterliche Anordnung verletzen die Beschwerdeführerinnen und den Beschwerdeführer zudem in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG.
1. Die Freiheitsentziehung setzt grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraus. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte, verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste. Für diese Frage ist auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Daraus folgt, dass von der Ausländerbehörde konkret geplante Freiheitsentziehungen regelmäßig einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürfen und Vollzugsbeamte der Polizei, die von der Ausländerbehörde gebeten worden sind, einen Ausländer im Wege der Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen, sich regelmäßig nicht mit Erfolg darauf berufen können, dass zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung eine richterliche Anordnung nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden könne.
Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss.
2. In den Verfahren I und III planten die jeweiligen Ausländerbehörden bereits vor den Festnahmen der Beschwerdeführerinnen, sie vor ihrer Abschiebung in Haft zu nehmen. Warum die Amtsgerichte, bei denen die jeweiligen Anträge der Ausländerbehörden zuvor eingingen, vor den geplanten Festnahmen der Beschwerdeführerinnen keine Beschlüsse erließen, ist von den Fachgerichten weder aufgeklärt worden noch sonst erkennbar. Eine richterliche Entscheidung über den jeweiligen Haftantrag wäre vor der Festnahme der Beschwerdeführerinnen möglich gewesen.
In den Verfahren lag, nachdem die Ausländerbehörde jeweils bereits deutlich vor der Festnahme der Beschwerdeführerinnen mit konkreten Vorbereitungen für die Inhaftierung begonnen hatte, im maßgeblichen Zeitpunkt kein Fall von Gefahr im Verzug vor, der eine behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerinnen ohne vorherigen richterlichen Beschluss gestattet hätte. Im Verfahren III ändert auch der Umstand nichts, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Festnahme unmittelbar an das Amtsgericht verbracht wurde und von der Festnahme bis zum Erlass der richterlichen Entscheidung nur ein Zeitraum von etwas über einer Stunde in Rede steht. Der Richtervorbehalt unterliegt auf Rechtsfolgenseite keiner zeitlichen „Marginalitätsschwelle“.
3. Im Verfahren II haben Amtsgericht und Landgericht weder hinreichend aufgeklärt, welche Anstrengungen das Regierungspräsidium unternommen hat, um einen Richter zu erreichen, noch wurde untersucht, welche Vorkehrungen am zuständigen Amtsgericht für die Erreichbarkeit eines Richters getroffen worden waren. Die im angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts vom 1. Juli 2020 enthaltene Feststellung, dass nach Ende der „Geschäftszeiten" des zuständigen Amtsgerichts am Freitagnachmittag um 15 Uhr keine richterliche Entscheidung mehr zu erlangen gewesen sei, reicht nicht aus, weil es allgemein festgelegte Dienstzeiten für Richter nicht gibt. Zudem oblag es den Gerichten, bei der Prüfung, ob eine richterliche Entscheidung unverzüglich im Sinne des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG nachgeholt wurde, eine dem Schutzzweck der Regelung entsprechende Gerichtsorganisation zu Grunde zu legen. Ob die Gerichtsorganisation am Amtsgericht diesem verfassungsrechtlichen Gebot genügte, kann mangels entsprechender Feststellungen der Gerichte nicht überprüft werden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 28.10.2025
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)