Bundesverfassungsgericht Beschluss08.09.2025
Bundesverfassungsgericht bestätigt Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz in einem DieselverfahrenErfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Zurückweisung einer Berufung in einem sogenannten Dieselverfahren
Das Bundesverfassungsgericht hat einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen die Zurückweisung einer Berufung im Beschlusswege nach § 522 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) in einem Fall des sogenannten Diesel-Abgasskandals richtet.
Das Oberlandesgericht München ging in der angegriffenen Entscheidung davon aus, dass die entscheidungserheblichen Rechtsfragen geklärt seien und die Sache somit keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO habe. Es hat hierbei jedoch nicht hinreichend beachtet, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die Rechtsfrage, ob die europarechtlichen Zulassungsregelungen für Fahrzeuge „Schutzgesetze“ im Sinne des § 823 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darstellen, erneut klärungsbedürftig war. Die Voraussetzungen für eine grundsätzliche Bedeutung der Sache waren somit erfüllt. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt daher das Gebot effektiven Rechtsschutzes.
Die Kammer hat die Entscheidung aufgehoben und an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer verlangte im Wege des Schadensersatzes Rückzahlung des Kaufpreises für ein Dieselfahrzeug, da dieses mit einer verbotenen Abschalteinrichtung ausgestattet sei. Nachdem das Landgericht seine Klage abgewiesen hatte – unter anderem, weil nach Ansicht des Landgerichts die Regelungen der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung keinen Individualschutz verfolgten –, legte er Berufung ein.
Nach der Berufungseinlegung wurde in einem bei dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anhängigen Vorabentscheidungsverfahren in den Schlussanträgen – vereinfacht dargestellt – vorgeschlagen, europarechtliche Regelungen zur Zulassung von Fahrzeugen dahin auszulegen, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Der Bundesgerichtshof veröffentlichte hiernach eine Pressemitteilung zu einem bei ihm geplanten Verhandlungstermin, in der er auf dieses Vorabentscheidungsverfahren Bezug nahm. Er führte aus, dass sich aus der noch zu ergehenden Entscheidung des EuGH (Az. C-100/21) möglicherweise Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht ergeben könnten, die in der mündlichen Verhandlung erörtert werden sollten. Auf diese Weise sollten den mit Dieselverfahren befassten Fachgerichten höchstrichterliche Leitlinien an die Hand gegeben werden.
Noch vor der Verhandlung des Bundesgerichtshofs wies das Oberlandesgericht die Berufung des Beschwerdeführers im Beschlusswege nach § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurück. Zur Begründung führte es unter anderem aus, ein auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteter Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung von Zulassungsregelungen komme nicht in Betracht. Der Bundesgerichtshof gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Rechtslage in Hinblick auf die europarechtlichen Regelungen von vornherein eindeutig sei („acte clair“). Hieran änderten weder die Schlussanträge im Vorabentscheidungsverfahren noch die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs etwas.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beschwerdeführer und rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG).
auch interessant
Wesentliche Erwägungen der Kammer
I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Die Annahme des Oberlandesgerichts, die Sache hätte keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO, ist aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen.
1. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts waren die Voraussetzungen für eine grundsätzliche Bedeutung der Sache erfüllt. Insbesondere war zu diesem Zeitpunkt erneut klärungsbedürftig geworden, ob die Zulassungsregelungen „Schutzgesetze“ im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB darstellen. Spätestens durch die Veröffentlichung der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs lagen zureichende Anhaltspunkte dafür vor, dass wieder Zweifel über die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage bestanden und die Sache somit grundsätzliche Bedeutung hatte. Die Pressemitteilung schilderte einen dem Ausgangsverfahren vergleichbaren Sachverhalt und wies auf mögliche Konsequenzen einer Entscheidung des EuGH für das nationale Haftungsrecht hin. Zugleich wies die Pressemitteilung auf die Absicht des Bundesgerichtshofs hin, den mit den Dieselverfahren befassten Fachgerichten höchstrichterliche Leitlinien an die Hand geben zu wollen. Nach dem Inhalt der unmissverständlich formulierten Pressemitteilung musste sich den Fachgerichten daher aufdrängen, dass der Bundesgerichtshof die einschlägige Rechtslage in der ausstehenden Entscheidung anders beurteilen könnte.
2. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts, der Pressemitteilung habe nicht entnommen werden können, dass der Bundesgerichtshof nunmehr davon ausginge, es läge kein „acte clair“ vor, stehen in einem unauflösbaren Widerspruch zu dem vom Bundesgerichtshof in seiner Pressemitteilung klar zum Ausdruck gebrachten Anliegen, sich angesichts der anstehenden Entscheidung des EuGH mit den dann aufgeworfenen Rechtsfragen erneut grundlegend befassen zu wollen.
II. Der Beschluss war aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 06.11.2025
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)