Bundesverfassungsgericht Beschluss01.10.2025
Wer eine Versammlung durch eine Sitzblockade stört, kann sich strafbar machenErfolglose Verfassungsbeschwerde gegen strafgerichtliche Verurteilung nach § 21 Versammlungsgesetz wegen Beteiligung an einer Gegendemonstration
Ein Mann wurde für die Teilnahme an einer Sitzblockade gegen eine Demonstration zu einer Geldstrafe verurteilt. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte nun die Verurteilung und stellte klar: Zwar ist eine Sitzblockade von der Versammlungsfreiheit gedeckt, doch die damit verbundene grobe Störung der anderen Demonstration kann dennoch strafbar sein.
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, mit der sich der Beschwerdeführer gegen seine strafgerichtliche Verurteilung nach § 21 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz, im Folgenden: VersG) wegen seiner Beteiligung an einer Gegendemonstration wendet. Nach dieser Norm wird bestraft, wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht.
Im Mittelpunkt des Verfassungsbeschwerdeverfahrens steht die Frage, ob eine strafgerichtliche Verurteilung nach § 21 VersG das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt, wenn es sich bei dem der Verurteilung zugrundeliegenden Sachverhalt um die Teilnahme an einer von Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützten Gegendemonstration handelt.
Die Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Zwar ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn eine Zusammenkunft nicht ausschließlich auf die Störung, Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung gerichtet ist, sondern neben solchen Elementen auch ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit durch die strafgerichtliche Verurteilung ist aber gerechtfertigt. Insbesondere ist der Straftatbestand des § 21 VersG als Grundlage für den Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Beschwerdeführers in der hier einschlägigen Tatbestandsvariante der „groben Störung“ sowohl formell als auch materiell verfassungsmäßig.
Sachverhalt
In Freiburg fand eine ordnungsgemäß angemeldete Versammlung einer religiösen Vereinigung statt, in deren Rahmen auch ein Aufzug durch die Innenstadt geplant war. Nach Abschluss der Auftaktkundgebung wollten sich die Demonstrantinnen und Demonstranten plangemäß in Richtung Innenstadt in Bewegung setzen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich allerdings rund siebzig Gegendemonstrantinnen und -demonstranten mehrreihig über die gesamte Fahrbahnbreite hinter das Martinstor gesetzt, sodass ein Passieren unter den beiden Torbögen nicht mehr möglich war. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten sah sich die Polizei nicht in der Lage, den Aufzug der Demonstranten über die beiden grundsätzlich passierbaren Gehwege rechts und links des Martinstores an den Gegendemonstranten vorbeizuleiten.
Der Beschwerdeführer, der sich unter den sitzenden Gegendemonstranten befand, verfolgte das Ziel, den Aufzug der Demonstranten in Höhe des Martinstores anzuhalten und den Aufzugsweg in Richtung Innenstadt zu blockieren. Dadurch wollte er gegen die Standpunkte der religiösen Vereinigung protestieren und die planmäßige Durchführung der Versammlung vereiteln.
Trotz mehrmaliger Aufforderung der Polizei, den Aufzugsweg freizugeben, blieben Gegendemonstranten, darunter der Beschwerdeführer, hinter den Torbögen sitzen. Daraufhin verfügte die Polizei die versammlungsrechtliche Auflösung der Sitzblockade der Gegendemonstranten. Die hinter dem westlichen Torbogen sitzenden Gegendemonstranten, darunter der Beschwerdeführer, wurden schließlich von Polizeikräften umschlossen, erhoben sich und wurden an den Fahrbahnrand gedrängt. Die Versammlung der Demonstranten, die das Martinstor bei ungehindertem Verlauf bereits wenige Minuten nach ihrer beendeten Auftaktkundgebung erreicht hätte, konnte erst nach längerem Warten ihren Aufzug fortsetzen.
Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Störung von Versammlungen und Aufzügen gemäß § 21 VersG zu einer Geldstrafe. Die vom Beschwerdeführer eingelegte Revision wurde durch das Oberlandesgericht als unbegründet verworfen.
Gegen diese Entscheidungen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde. Er macht insbesondere eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 8 Abs. 1 GG geltend.
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Wesentliche Erwägungen des Senats
A. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie eine mögliche Verletzung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG rügt. Insoweit sind vorliegend auch die Erfordernisse der Erschöpfung des Rechtswegs und der Subsidiarität gewahrt. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer anstelle des auch statthaften Rechtsmittels der Berufung sogleich das Rechtsmittel der Revision eingelegt hat.
Zwar lässt ein Beschwerdeführer im Fall einer Sprungrevision bewusst eine Instanz aus, in der eine Beseitigung der geltend gemachten Grundrechtsverletzung jedenfalls möglich gewesen wäre. Der Annahme eines generellen Zulässigkeitshindernisses im Falle der Sprungrevision steht jedoch entgegen, dass die mit der Sprungrevision verfolgten Ziele der Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie maßgeblich konterkariert würden, wenn sich Beschwerdeführer mit ihrer Entscheidung für eine Sprungrevision jede Möglichkeit einer späteren Verfassungsbeschwerde von vornherein abschnitten. Die Verfassungsbeschwerde kann in diesem Fall allerdings nicht auf solche Einwände gestützt werden, die fachrechtlich nur vor der übersprungenen Instanz hätten geltend gemacht werden können.
B. Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG ist vorliegend zwar eröffnet. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist verfassungsrechtlich aber gerechtfertigt.
I. 1. Die Versammlungsfreiheit zählt zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens und ist für die freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend. Der einer Demokratie immanente kontinuierliche Meinungskampf mit seinen wiederkehrenden, auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips zu treffenden Entscheidungen erfordert fortwährend einen freien, offenen und pluralistischen Diskurs, in dem auch andersdenkende Minderheiten zu Wort kommen und Gehör finden. Diese fundamentale Bedeutung der Freiheit zur Versammlung in physischer Präsenz wird durch die fortschreitende Digitalisierung und wachsende Bedeutung sozialer Medien nicht in Frage gestellt. Auch in einer zunehmend digitalisierten Welt stellt eine Versammlung in physischer Präsenz im öffentlichen Raum ein unverzichtbares Instrument der kollektiven Meinungskundgabe dar, durch das ein gemeinsames kommunikatives Anliegen unmittelbar erlebbar wird und unabhängig von den Steuerungsmechanismen entsprechender Online-Plattformen direkt an einen konkreten Adressatenkreis oder allgemein an die Öffentlichkeit gerichtet werden kann.
2. Auch bei einer Zusammenkunft, die auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist, ist der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG jedenfalls dann eröffnet, wenn sie ein eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung aufweist, ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber dem Störungselement ankäme. Sofern eine derartige Zusammenkunft hingegen ausschließlich auf die Störung einer anderen Versammlung gerichtet ist, wird sie mangels Versammlungseigenschaft nicht vom Schutzbereich umfasst. Etwas anderes gilt auch nicht für Zusammenkünfte, die – über eine bloße Störung hinaus – auf die Verhinderung oder Sprengung einer anderen Versammlung gerichtet sind.
3. Die hier maßgebliche Gegendemonstration weist jedenfalls ein eigenständiges kommunikatives Element in Form von konkreten inhaltlichen Äußerungen, insbesondere in Form von Sprechchören und Plakaten mit verschiedenen Aussagen, auf und ist daher als Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG einzuordnen. Damit unterfällt auch die konkrete Teilnahme des Beschwerdeführers an der Gegendemonstration dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit.
II. Der durch die strafrechtliche Verurteilung gegebene Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
1. Der Straftatbestand des § 21 VersG in der hier einschlägigen Tatbestandsvariante der „groben Störung“ ist formell verfassungsmäßig, insbesondere ist kein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG gegeben.
a) Das Zitiergebot findet jedenfalls nur auf solche Grundrechtseinschränkungen Anwendung, die der Gesetzgeber vorhergesehen hat oder die für ihn hinreichend vorhersehbar waren. Zur Beurteilung der hinreichenden Vorhersehbarkeit ist maßgeblich darauf abzustellen, was von einem sorgfältig handelnden Gesetzgeber ausgehend von einer strikten ex-ante-Perspektive realistischerweise erwartet werden kann.
In tatsächlicher Hinsicht muss der Gesetzgeber nur diejenigen Anwendungsfälle einer Norm in den Blick nehmen, die er bei Erlass der in Rede stehenden Regelung vor Augen hatte oder die sich ihm jedenfalls hätten aufdrängen müssen. In rechtlicher Hinsicht ist der Gesetzgeber jedenfalls gehalten, seiner Prüfung möglicher Grundrechtseinschränkungen die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde zu legen. Eine Aktualisierungspflicht des Gesetzgebers für den Fall, dass sich seine ex-ante-Bewertung zu einem späteren Zeitpunkt unter tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten als unzutreffend herausstellen sollte, besteht nicht.
b) Gemessen daran ist vorliegend kein Verstoß gegen das Zitiergebot festzustellen. Hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür, dass der historische Gesetzgeber bei Einführung des Straftatbestands des § 21 VersG im Jahr 1953 die damit verbundene Einschränkung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG konkret vorhergesehen hat, liegen nicht vor. Die Einschränkung war für den historischen Gesetzgeber im Jahr 1953 auch nicht hinreichend vorhersehbar, und zwar weder unter tatsächlichen noch unter rechtlichen Gesichtspunkten. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang unter anderem, dass sich damals zum Grundrecht der Versammlungsfreiheit, insbesondere zur Schutzbereichsgrenze der Friedlichkeit, noch keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet hatte.
2. Der Straftatbestand des § 21 VersG in der hier allein gegenständlichen Tatbestandsvariante der Verursachung „grober Störungen“ begegnet auch unter materiellen Gesichtspunkten keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Der insoweit mit § 21 VersG verbundene Eingriff in Art. 8 Abs. 1 GG ist insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar.
a) Der Straftatbestand des § 21 VersG kommt zunächst hinsichtlich der darin enthaltenen Verbotsnorm zu einem angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen. Bei einer Gesamtabwägung mit dem Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausgangsversammlung, ihre Versammlung überhaupt durchführen zu können, muss das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gegenversammlung, ihre Versammlung gerade in einer grob störenden Art und Weise abhalten zu können, zurücktreten. Es ist für den Prozess der freien Meinungsbildung in einem demokratischen Gemeinwesen von zentraler Bedeutung, dass das Recht, seine Meinung gemeinschaftlich mit anderen öffentlich kundzutun, nicht zum Mittel wird, um Menschen mit anderen Überzeugungen an der Wahrnehmung desselben Rechts zu hindern.
b) Zu einem anderen Ergebnis gelangt man auch nicht unter Einbeziehung der in § 21 VersG enthaltenen strafrechtlichen Sanktionsnorm. Die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers, das in § 21 VersG enthaltene Verbot der „groben Störungen“ nicht verbotener Versammlungen und Aufzüge in Verhinderungs-, Sprengungs- oder Vereitelungsabsicht strafbewehrt auszugestalten, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Diese Störungen stellen nicht nur insgesamt ein geordnetes, funktionsfähiges Versammlungswesen in Frage, sie beeinträchtigen auch ganz konkret die von Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Grundrechtsausübung Dritter. Auch der konkret vorgesehene Strafrahmen begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
3. Ausgehend vom Beschwerdevorbringen und von den zugrunde zulegenden Feststellungen des Amtsgerichts ist der Straftatbestand vorliegend auch in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise angewandt worden.
© urteile.news (ra-online GmbH), Berlin 14.11.2025
Quelle: Bundesverfassungsgericht, ra-online (pm/pt)